(Bibliothek, Information und Dokumentation)

Walther Umstätter

Am 30.10.2014 beim BAK (Berliner Arbeitskreis Information), anlässlich der Lesung von W. Bredemeier, aus seinem Buch „Anti-Heimat-Roman“ in der Bibliothek TU /HdK Berlin im Volkswagenhaus)

Vorwort Als im Oktober 1989, über 20 Jahre nach ihrer Gründung die Bibliothekarische Auslandsstelle des ehemaligen Deutschen Bibliotheksinstituts eine Gruppe leitender Bibliothekare aus Ost- und Mitteleuropa in die Bundesrepublik für ein Fachseminar mit anschließender Studienreise eingeladen hatte, war das ein- und erstmalig. Jeder einzelne Teilnehmer musste noch über die betreffende Botschaft eingeladen und mit einem Visum ausgestattet werden. Die Gruppe besuchte auch den Dokumentartag in Bremen. Schweigend und mit zunehmenden Erstaunen nahmen sie an einer Sitzung teil, die von dem Vertreter des damaligen BMFT beherrscht wurde, mit dessen finanzieller Förderung das damalige hochgelobte Programm zur Informatisierung der Bundesrepublik ins Leben gerufen worden war. Aber nicht nur sie schwiegen, sondern auch die Teilnehmer. Ein tschechischer Kollege flüsterte mir leise ins Ohr, das ist ja wie bei uns. ----Bis ein junger Mann das Wort ergriff und auf das nahe liegende hinwies, dass ein solches Programm die Infrastruktur entbehrte und dass dies nicht ohne die Bibliotheken so bewältigen sei. etc…….Es war Herr Umstätter. Gedankt hat ihm keiner diesen Mut, aber er ist heute noch da, mit hörbarer Stimme, während alle die anderen Anwesenden, die Mitglieder des Instituts Dokumentation, die Mitarbeiter der GMD etc. verschwunden sind. 

Hier nun sein Beitrag: 
Seit dem Beginn der Digitalisierung 1963 haben wir inzwischen wöchentlich Vorschläge für Zukunftsentwicklungen im BID-Bereich. Es sind Anregungen, Befürchtungen, Hoffnungen oder Warnungen: In den Bibliotheken entstanden so Artotheken, Ludotheken, Verleih von Zimmerpflanzen in ÖBs, Lesecafés, Spezialangebote für Alte, für Kinder, Demente, Analphabeten, Aidskranke oder Behinderte.

Dazu kommt nun die Bibliothek als Makerspace oder LibraryLab. In den Niederlanden sollen Bibliothekare zu „community leaders“ werden. K. Tochtermann nannte in BuB 10 Thesen zur Zukunft der Bibliotheken. A. Nikolaizig, hat gerade die Zeitreisen in die bibliothekarische Zukunft 1914 – 2014 – 2114“ herausgegeben. Sie zeigen, dass nach 1914 Unvorstellbares geschah, so dass alle Vorhersagen rasch obsolet wurden. Darum 3 Anmerkungen: 
Zunächst die schlechte Nachricht: Keiner weiß, was die Zukunft im BID-Bereich bringt, weil Menschen gerne einen freien Willen entfalten möchten, also auch unabsehbare Absurditäten vollbringen können. Ein Beispiel: 
Bibliotheksjuristisch sollten e-Books jahrelang den gedruckten Büchern gleichwertig sein. 
1. wollten die Verleger ihre Verwertungsrechte behalten. 
2. sollte bei Zitationen die Seite 123 im Werk XY Versionsunabhängig die identische Textstelle betreffen.
3. sollte ein Buch rationell elektronisch erzeugt und bei Bedarf auch auf Papier ausgedruckt werden können.
4. sollte die Preisbindung gelten.
5. sollte der reduzierte Mehrwertsteuersatz gelten.

Aber plötzlich wurden e-Books als Dateien deklariert, und nicht als Bücher, damit sie im Besitz der Verlage bleiben können.

So absurd das klingt, aber im Moment ist ein e-Book juristisch kein Buch! Bibliotheken und Buchkäufer wurden damit enteignet.

Es kann kein bibliothekarischer Bestandsaufbau mehr betrieben werden. Früher bekam ein Bibliothekar Geld zum Bucherwerb, und musste im Katalog exakt nachweisen, was er für dieses Geld erworben hatte. Damit entstehen 5 Fragen: 
1. Wie lange dürfen öffentlich bezahlte Bibliotheken dafür noch Geld ausgeben? Wer übernimmt die Langzeitarchivierung?
2. Sind dann noch Bibliothekstantiemen zu zahlen?
3. Weil geistiges Eigentum nur erworben werden kann, wenn man die neuen Erkenntnisse der gesamten Menschheit zugänglich macht, darf man sie dann auf diesen neuen closed access beschränken?
4. Wann wird dieser Unsinn wieder berichtigt?
5. Wie lange hält es diese Gesellschaft noch für gerecht, Autorenleistungen nach Auflagenzahl zu honorieren, während Wissenschaftler schon oft dafür zahlen, ihre Ergebnisse publizieren zu dürfen – mit Leistungsschutz hat das nichts zu tun.

Ein geheim gehaltenes Wissen kann man nicht plagiieren, man muss es erneut schöpfen bzw. urheben, das bedeutet teure Doppelarbeit.

Inzwischen sind wir so weit, dass etliche Großverlage nicht mehr dazu beitragen, geistiges Eigentum zu verbreiten, sondern gezielt zu verknappen.

Wir haben immer wieder Einflüsse fachfremder Entwicklungen durch Bradford's Law of Scattering (ein wichtiges Gesetz im BID-Bereich). Dadurch überlagern sich Trends mit allen Konsequenzen, wie:
1. das Wissenschaftswachstum,
2. der Übergang von der Informations-, zur Bedeutungs-, zur Wissensverarbeitung durch Computer, und damit zur zunehmenden Automatisierung der Wissensorganisation,
3. die Globalisierung mit internationaler Kommunikation,
4. die Privatisierung mit zunehmender Geheimhaltung (wobei geheimes Wissen im öffentlichen Unterricht nicht vermittelt, sondern nur durch Analysen z. B. in Hackerspaces aufgedeckt werden kann),
5. die zunehmende Arbeitsteilung mit Spezialisierung und Diversifizierung (s. a. J. Naisbitts „Global Paradox“), 
6. die Teamoptimierung (Teams mit Projektakquisespezialisten, Projektmanagern, PR-Fachleuten, Programmierern, Statistikern, Rechercheuren und anderen Fachspezialisten).
7. Wir werden mit Informationen überschüttet, die die Werbung finanziert und darum will niemand mehr dafür zahlen.

1. gute Nachricht: Die Verdopplungsrate der wissenschaftlichen Literatur (von Fremont Rider 1944 und von Derek J. de Solla Price1963 entdeckt) beträgt 20 Jahre, und ist ein wichtiges Gesetz im BID-Bereich, das seit Jahrhunderten gilt.

Es ist sehr robust. So wurde in den Weltkriegen nicht weniger oder mehr geforscht, aber über andere Themen, mit nur kurzzeitiger Geheimhaltung. 
Price erkannte: Die Verdopplungsrate der Weltbevölkerung beträgt ~ 50 J., die der Wissenschaftler ~ 20 J. Wissenschaftler produzieren durchschnittlich konstant eine Publikation/J. Die Prognose von Price: In der Big Science würden eines Tages (in ~300 Jahren) alle Menschen Wissenschaftler sein, ergibt sich daraus.

Seine eigenen Zweifel daran waren:
1. würde die Wissenschaft damit immer teurer und ineffizient.
2. nur 7- 8% der Menschen sind dazu genial genug.
Aus heutiger Sicht machte Price aber vier Fehler:
1. Insbesondere die Digitale Bibliothek war und ist eine unglaubliche Rationalisierung im Wissenschaftsbereich. Sie ist in der Lage alle Menschen mit dem Weltwissen kostengünstig zu versorgen.
2. In der Big Science bringt die Wissenschaft immer mehr Gewinn, weil jedes gelöste Problem ein doppelt großes lösbar macht. 
3. Price verwechselte Wissenschaft mit Genialität, weil das für die Little Science typisch war. (Alle Menschen können als Homo sapiens aber arbeitsteilig Wissen erzeugen.) 
4. Vor 2000 Jahren konnte man sich auch nicht vorstellen, dass alle Menschen Schriftgelehrte werden können. Heute kämpfen Bibliothekare um die Leseförderung der letzten Analphabeten.

Bredemeiers „Anti-Heimat-Roman“ thematisiert auch diese Problematik, der Verwissenschaftlichung unserer Gesellschaft, u. a. darin, dass die Klassenlehrerin von G. Arntz meint: „In der Bundesrepublik besitze weniger als jeder zehnte Bürger das Abitur.“ (S. 283), und das sollte damals aus ihrer Sicht auch wohl so bleiben.

Rationalisierung setzt immer mehr Arbeitskräfte aus Landwirtschaft, Industrie und Dienstleitung für die Wissenschaft frei – auch in Bibliotheken. So ernährt ein Landwirt inzwischen 130 Menschen, und schon 1976 ersetzte in Deutschland 1 Onliner 12 Arbeitskräfte mit bibliografischen Handsuchen.

Viele Berufe sterben aus und werden akademisiert. Darum ist der „Akademisierungswahn“ J. Nida-Rümelins kein Wahn, sondern eine zwangsläufige Folge einer unausweichlichen Entwicklung. Es gibt scheinbare Trends, die in Wirklichkeit Wellenbewegungen sind. Hier geht es aber um echte Trends.

Beliebt ist es Arbeitsplätze durch Zielgruppenerweiterung zu schaffen. So erweiterte die Medizin ihre Zielgruppe der Kranken, durch die Früherkennung, auf alle Menschen sehr erfolgreich. Motto: Gesundheit ist nur unentdeckte Krankheit. – s. Anstieg der Krankenkassenbeiträge. Bibliotheken entdecken gerade die Rentner, weshalb Hauke, P. »Challenge accepted!«, Bibliotheken stellen sich der Herausforderung des demografischen Wandels, im Jahr 2014 heraus gab.

Die Aus- und Fortbildung von heute entscheidet über die Zukunft der Informationsspezialisten.

Als A. v. Harnack 1921 die Bibliothekswissenschaft als „Nationalökonomie des Geistes“ definierte, und die Online Revolution 1963 mit der Vermeidung wissenschaftlicher Doppelarbeit und mit der Qualitätssteigerung durch Reviewing ausgelöst wurde, ging es immer um das Selbe, um die wirtschaftliche Bedeutung von Wissen. 
Die DGI änderte ein Jh. nach der Entstehung der Dokumentation, die mit der FID 2002 sang und klanglos in der Digitalen Bibliothek verschwand, ihren Namen in „Deutsche Gesellschaft für Information und Wissen“. 
Denn wir befinden uns seit etlichen Jahren „Zwischen Informationsflut und Wissenswachstum. Bibliotheken als Bildungs- und Machtfaktor der modernen Gesellschaft. Simon Verl. Bibliothekswissen, Berlin (2009)„ - und darum geht es in der absehbaren Zukunft, um eine wirtschaftliche Wissensorganisation im internationalen Wettbewerb.

2. gute Nachricht 
Die Zukunft des BID-Bereich ist klar erkennbar: Nachdem wir im deutschen BID-Bereich den USA um rund zwanzig Jahre stetig hinterher hinken – gleichgültig ob wir etwas anders, besser oder gar nicht machen wollen – folgen wir am Schluss erfahrungsgemäß zwangsläufig.

Besorgniserregend ist darum die dortige Abnahme an „federal funding for new libraries“, die aber weniger mit dem Aussterben unseres Berufes zu tun hat, als vielmehr mit der Kommerzialisierung des Informationsmarktes, und dem Bedarf an private knowledge brokers.

Ist Privatisierung ein Trend oder eine Pendelbewegung? 
Wo bleibt eigentlich die Preisbindung, wenn Amazon für 9,99 € /Monat Kindle Unlimited anbietet, und was können dann noch die öffentlich finanzierten ÖBs mit ihrer Leseförderung leisten?

Viele klassische Bibliotheken werden zunehmend den Klosterbibliotheken ähneln, in denen man die Buchrücken, wie in Buchmuseen betrachtet. Gelesen und gearbeitet wird schon längst auf Bildschirmen und Tablets. 
In den USA werden zunehmend Systemadministratoren, Analysten etc. gesucht, und Bibliotheken zu Library Labs weiter entwickelt. Den USA gegenüber gilt aber auch: „Überholen ohne einzuholen.“ Ob da ein Europäischer „WebIndex“, wie ihn D. Lewandowski fordert, Google wirklich Konkurrenz machen kann, ist zweifelhaft. Bis wir das erreicht haben ist Google mit Künstlicher Intelligenz längst weiter.

E. Poetzsch mahnte in einem Interview (in PASSWORD 6/2013, S. 6) an: „Es mangelt an Visionen … und vor allem an Menschen mit Charisma“. Die deutschen Information Professionals brauchen aber auch die Fähigkeit, ein solches Charisma bei den richtigen Visionären zu erkennen, weil ihnen das oft fehlt, zweifeln sie an wichtigen US-amerikanischen Entwicklungen. Sie wollen vieles besser machen und tragen nicht selten ihren Wissensmangel zu Markte. In den USA haben Bane & Company, Standard & Poor's, Earnest & Young, and Moody's ein “apocalyptic scenario for higher education” an die Wand gemalt (www.onlinecollegecourses.com/2012/12/21/the-future-of-moocs/)und Harden, N, prophezeit durch MOOC “The End of the University as We Know it.” http://the-american-interest.com/article.cfm?piece=1352)

BID-Spezialisten sollten sich darauf einstellen.

In Deutschland hört man von solchen Entwicklungen bisher noch wenig. 
Wissenschaft lässt sich kaum beschleunigen bzw. bremsen. Sie schreitet aber unaufhaltsam voran (Zwischen Informationsflut... S. 272). Wer die Fachleute sind, die den Wissensbedarf im BID-Bereich möglichst bald optimal ausfüllen, wird sich zeigen, und entscheidet über die Berufschancen vieler Archivare, Bibliothekare, Dokumentare, Informationsspezialisten und Knowledge Manager. Dabei ist Grundlagenwissen bzw. ausreichende Bildung als Basis wichtig. 
Ebenso robust wie die Verdopplungsrate der wissenschaftlichen Literatur ist die Halbwertszeit, die zwei Obsoleszenzen einschließt: 
1. Falsifikation 
2. Aktualitätsverlust 

Wirkliches Wissen verliert nur an Aktualität. 
Es gilt also, in das richtige Wissen zu investieren. 
Je mehr geheim gehaltenes Wissen durch Analysen aufgedeckt wird, desto öfter werden Urheber darüber nachdenken, ihre Erkenntnisse rascher und korrekter zu publizieren, um ihre Urheberrechte nicht zu verlieren – das gilt auch für Google. Bislang ist Geheimhaltung für sie aber lukrativer. 
Den Information Professionals fehlt es im Moment noch am gemeinsamen Grundwissen, um als Lobby schlagkräftig aufzutreten (s. Steilvorlage www.infobroker.de/podcast/2014)

Nachwort: Willie Bredemeier und Walther Umstätter beteiligen sich nicht an Unkenrufen und Prophezeiungen, sondern haben Strukturen analysiert, die zu den verheerenden Ergebnissen führen können, wie es satirisch und komisch Bredemeier aus einer 40 jährigen Entwicklung beschreibt. Er trifft sich darin mit Rainer Strzolka, dessen Buch Der Kulturzerstörer diese Entwicklung satirisch verfremdet. Die von Umstätter geforderte Akademisierung verleugnet aber nicht, dass es gilt, die aufkommenden Strukturen zu diskutieren. Lanier, der mit seinem Buch who owns the future den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in diesem Jahr erhielt, zeigt eine Revolution des gesamten Arbeitslebens. Auch wenn Berufe akademisiert werden, die früher nie von „studierten“ Leuten wahrgenommen wurden, es werden nicht genug sein. Er sagt den beruflichen Tod von Musikern, Journalisten und Hochschullehrern voraus, wenn wir uns nicht ändern. Die Vorschläge der Arbeitsministerin Nahles, vom 7.11. 14 für Änderungen der zynischer Weise genannten JobZentren sind so, dass man das wiederholen will, was die Bürger aus Ostdeutschland ihren Regierenden vor 25 Jahren vorwarfen, sie haben wirklich keine Ahnung.

Schade, dass der Abend des BAK zu Ende ging, die Diskussion hätte beginnen können.