Als Walter Hofmann dabei half, Leipzig zur fortschrittlichen Stadt der Öffentlichen Bibliotheken zu entwickeln, hatte er die Bildung des „gemeinen Volkes“ im Sinn. Er löste damit den Richtungsstreit über die Rolle der Bibliotheken aus, gezielte Bildung für die Armen oder Demokratisierungsinstrument, dem in den 60er Jahren definierten Bücherschrank für alle. (Paul Ladewig: Katechismus der Bücherei, kommentiert von Ronald Kaiser, ISBN 978-3-940862-28-0)

Diese Debatte fand nicht nur in Deutschland statt; auch in Frankreich und in Großbritannien wurden öffentliche Bibliotheken als Bildungseinrichtungen für verelendete Massen und Barriere gegen Alkoholismus angesehen (A. Ball: The Public Libraries of Greater London, 1856-1914, 1977). Die heißen Kämpfe von damals um die Einführung einer Bibliothekssteuer gingen auch um die Frage: Unnötige soziale Wohltat oder Investition in die Bildung?

Während sich in Großbritannien und allen angelsächsischen Ländern die Idee einer öffentlichen Bibliothek für alle, als Mittelpunkt einer Kommune und einer Bildungsinfrastruktur bis in die 60er Jahre durchsetze, waren Öffentliche Bibliotheken in Deutschland immer Teil der sozialen Frage. Sie verstanden sich als pädagogische Einrichtungen und Instrumente einer sozialen Bibliotheksarbeit. Daher waren sie auch den Ideen der Business Information nur teilweise aufgeschlossen. Diese Dienstleistung, die in den USA ausgebaut und in Kanada, Schottland und Großbritannien schon seit 1923 als Beitrag zum Aufbau einer Infrastruktur in der Kommune angesehen wurde, traf in Deutschland noch in den 80er Jahren auf Widerstand, da darin ein Gegensatz zu der allgemeinen Arbeit an benachteiligten Teilen der Bevölkerung gesehen wurde. Die ausgezeichnete Arbeit von Manuela Schulz: Soziale Bibliotheksarbeit – Kompensationsinstrument zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen (ISBN 978-3-940862-10-5) hat alle Aspekte der sozialen Bibliotheksarbeit dahingehend analysiert, dass es immer um Öffentliche Bibliotheksarbeit geht, die aber auch auf verschiedene Klientele und verschiedene Bedürfnisse zielt und demensprechend gestaltet wird. Es geht nicht darum einen Gegensatz zwischen den Nutzern, Lesern auszuspielen, sondern wirklich um den Zugang für alle, der heute mehr denn je möglich und notwendig ist.

Nun erreicht uns – nicht durch die Hintertür die gleiche Debatte.

„Kannibalisieren Bibliotheken Verlage, wenn sie E-books anbieten?“ Solche wahrhaft militanten Ausdrücke wurden auf der Höhe der Debatte 100 Jahre früher nicht benutzt.

Widerspruch erfolgt auch von Phil Bradley, Präsident des britischen Bibliotheksverbandes CILIP mit dem Argument, dass die Ausleihe von E-books keinen Umsatzeinbruch bedeutet.

Damit kann er sich auf grundlegende Studien von vor ca. 30 Jahren berufen. Diese besagen, dass Bibliotheksnutzer nun mal auch Leser sind und somit auch Bücherkäufer. Besonders eifrige Nutzer von Bibliotheken bauen ihre eigenen Bibliotheken auf. Schon der große Bibliothekar Lester Asheim (gehört zu den 100 wichtigsten Persönlichkeiten des 20.Jahrhunderts) machte auf die Relevanz zwischen Bibliotheksbesuchern und Buchkäufern aufmerksam. Dies geschah in einer öffentlichen Veranstaltung der damaligen Amerika Gedenkbibliothek, Berlin und brachte all die Vertreter des Faches in Verlegenheit, deren Aufmerksamkeit sich mehr auf die Nichtnutzer als auf die Leser konzentrierte.

Warum sollte das bei E-books, die anscheinend von Bibliotheken nur einmal ausgeliehen werden, anders sein, wenn denn die Leser E-books mögen. Es sieht so aus, als ob Matthias Ulmer keine studierenden Kinder hat oder jemanden kennt, der zähneknirschend zur Kenntnis nimmt, dass der größte Teil der wissenschaftlichen Bibliotheken aus Kostengründen die Bücher nicht mehr ausleiht und so zu Präsenzbibliotheken wird. Ein zusätzlicher Grund, Bücher zu kaufen, wenn nur das nötige Kleingeld vorhanden wäre.

Matthias Ulmer argumentiert damit, dass die Versorgung mit E-books nicht Sache der Öffentlichen Hand ist. Hier wird mit einem technischen Format argumentiert, das aber den Kern der Versorgung durch die Öffentlichen Bibliotheken trifft.

Er übersieht die Aufgabe der Bibliotheken bei der Demokratisierung der Gesellschaft, bei der heute viel beredeten Bildung (Karsten Schuldt: Bibliotheken als Bildungseinrichtungen, ISBN 978-3- 940862-38-9) ihre Rolle bei der sozialen und kulturellen Gerechtigkeit, bei der Bewahrung des kulturellen Erbes.

Bibliotheken nur für Hartz IV-Empfänger, möglichst mit Einkommensnachweis? Das ist Kannibalismus an einer offenen Gesellschaft. Zu stark haben betriebswirtschaftliche Überlegungen die grundsätzliche Debatte über die Ziele der Bibliotheksarbeit bestimmt. Es ist ein volkswirtschaftlicher Unsinn, dass das Bildungsinstrument Bibliothek zu wenig genutzt wird, man könnte fast annehmen, zu Gunsten einer weiteren Teilung der Gesellschaft.

Sehr geehrter Herr Ulmer, lesen Sie Rainer Strzolka, Handbuch der Kulturzerstörung (ISBN 978-3-940862-17-4) und verstehen Sie die Sorge und Verzweiflung von Bibliothekaren für die zahlreiche Leser ihrer Bestände egal in welchem Format. Es geht den Verlegern wirklich nichts verloren, wenn die Bibliotheken nun auch ebooks anbieten, im Gegenteil.

Elisabeth Simon,
HonFellow von CILIP und Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. 

- Interview bei Buchreport: http://www.buchreport.de
- Bericht bei netbib weblog: http://log.netbib.de