Das vorliegende Buch hat nicht nur einen zweisprachigen Titel, sondern auch der Text wird komplett auf deutsch und englisch gegeben: Das ist zweifellos sehr nützlich, denn der Inhalt würde sonst nur wenige Interessenten an der nubischen Musik erreichen. Das Vorwort stammt von Dorit Klebe, Musiktheologin an der Universität der Künste in Berlin, und darin resümiert sie die Bedeutung des Buches: In den siebziger Jahren hatte Artur Simon, bekannt als langjähriger Leister der Abteilung Musiktheologie des Ethnologischen Museums in Berlin (bekannt auch unter dem traditionellen Namen Phonogramm-Archiv), verbrachte ein Jahr in Nubien. Dort lernte er den Sänger Dahab Khalil (1927 – 1977) kennen, und es gelang ihm, ihm zu einem längeren Gespräch zu bewegen. Die Fragen wurden dann nach einem ausgearbeiteten Konzept von einem örtlichen Lehrer gestellt und mitgeschnitten, um den sensiblen und etwas scheuen Sänger nicht unter Druck zu setzten. Dahab stammte nicht aus einer Musikerfamilie, sondern aus bäuerlichem Umfeld in Nord-Nubien, einer Landschaft, die durch den großen Staudamm und durch die Grenzziehung 1956 (nach der Unabhängigkeitserklärung Sudans) großen Veränderungen unterworfen wurde. Musik wurde bei der lokalen Bevölkerung oft mit Herumtreiberei gleichgesetzt. In der Tat, als der junge Dahab nach Ägypten geschickt wurde, um dort einen Beruf zu lernen, hatte er nur Ohren für die Musik, die er dort hörte, und auch nach seiner Rückkehr kam es nicht zu einer wirklichen Existensgründung. Er lernte das Leierspiel von einem Bekannten, fuhr am liebsten mit einem Boot auf eine Nilinsel, um für sich selbst zu spielen, trug aber auch bei Festveranstaltungen, meist Hochzeiten vor. Irgendwann, als er so um die dreißig war, verlor er sein Augenlicht und widmete sich nun ausschließlich der Musik da ihm andere Erwerbsquellen abgeschnitten waren. Der Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nubien, die stärkere Arabisierung und Globalisierung haben nicht nur traditionelle Vorurteile gegen die Sänger abgebaut, sondern auch insbesondere Dahabs Liedern eine besondere Popularität verliehen. Ob dies auch weiterhin der Fall sein wird, darf in Anbetracht der immer rascheren Modernisierung mit einem Fragezeichen versehen werden.
Das Kernstück des Buches sind das Interview, das lebendig und anschaulich wirkt, da es im Frage- und Antwortstil belassen ist und so der Sänger selbst seine Meinungen und Mitteilungen zu Gehör bringen kann, sowie die Tonaufnahmen seiner Lieber. Letztere sind umso eindrucksvoller, als die Musik den Hörer direkt anspricht und Stimmungen vermittelt, die Beschreibungen nur ansatzweise erläutern können. Eine Transkription und Notation der Lieder wird nicht gegeben, aber einige Lieder sind im Text abgedruckt. Die CD enthält 9 Musikstücke, die nur auf dem Label verzeichnet sind: 1 – 3 Dahab, 4 Wiegenlied, 5 Humb Humb, 6 Escalée, 7 Rahmentrommel, 8 – 9 Hochzeiten in Nubien. Nähere Erläuterungen dazu werden nicht gegeben, aber der aufmerksame Leser/Hörer wird z. B. das Lied Leel (Nr. 2) leicht erkennen.
Im Titel des Buches wird das zentrale Musikinstrument, Dahabs Lieblingsinstrument, genannt kisir, die Leier, eine Jochlaute einfache Bauart, mit einem Resonanzkörper am besten aus Kalbsfell, scheint schon lange in Nubien populär gewesen zu sein: der Name dürfte mit dem griechischen kithara verwandt sein; tanbūr(a) ist der arabische Name des Instruments, das nun vielfach durch al-ūd (arabische Kurzhalslaute) abgelöst wird. Dahab, der in seiner Jugend an Schöpfwerken gearbeitet hatte, teilte mit, dass ihn die Geräusche des escalée (Wasserradsz) besonders inspiriert hätten (vgl. Aufnahme 6). Wir werden daran erinnert, dass in Afrika das Konzept des musikalischen Vortrags (etwa im Konzertsaal) traditionell nicht bekannt war – Musik war eine Sache der sozialen Interaktion, also zum Mitmachen, was sich zwangslos am taktmäßigen Händeklatschen und Fußstampfen des Publikums zeigt.
Dahab wählte seine Inspiration meist aus dem Umfeld; er war wohl eine Ausnahme, wenn er seine Lieder nicht einer Person (etwa einem Mädchen) widmete … Es ist spannend, dem Interview zu folgen und Dahabs Schaffen zu verfolgen, der übrigens durchweg eigene Lieder, keine fremden, sang.
Das Buch wird abgerundet durch einen ausführlichen, meist farbigen Bildteil, der die Texte gut illustriert, ein Kurzporträt Artur Simons sowie ein Verzeichnis seiner (insbesondere hier einschlägigen) Publikationen. In ihrer Einleitung schlägt die Verlegerin Elisabeth Simon, die ihr früheres Berufsleben der bibliothekarischen Auslandsarbeit gewidmet hatte, einen großen Bogen zwischen der Arbeit ihres Mannes, des Musiktheologen, und ihres Sohnes (Komponisten): gelingt es, die traditionelle Volksmusik, wie etwa die nubische, in eine Nische zu retten, bevor sie um kommerziellen Sog verschwindet oder als folkloristische Arabeske überlegt, so sieht sie die moderne (auch gern »Neue«) Musik genannt, gleichfalls in einer Nische, und es ist Aufgabe der (so genannten) Kulturschaffenden, sie dort nicht verkümmern zu lassen. Der Verlag engagiert sich deshalb in dieser Hinsicht besonders. Für die Musiktheologie heißt deshalb seit Jahren die Devise: retten, was zu retten ist. Am Rande sei hier nur erwähnt, dass nicht nur die Technik (Aufnahmemöglichkeiten), sondern auch die Standards als Hilfsmittel bereitstehen: Standards gelten je eher als Vorreiter der Globalisierung und Gegner des Individuell-Schöpferischen; aber die ISMN (Internationale Standard-Musiknummer) erlaubt es, Aufnahmen (Transkriptionen) durch eindeutige Identifikation weltweit zugänglich zu machen, auch wenn diese peripher und außerhalb des Musikhandels erschienen sind.
Das Buch ist eine informative und attraktive Einführung in das Schaffen und das soziale Umfeld eines nubischen Sängers, eine Welt, die heute schon großenteils verschwunden ist. Ziel war es, und das ist voll erreicht worden, allgemeinverständlich ein interessiertes Publikum anzusprechen und nicht durch einen allzu wissenschaftlichen Apparat abzuschrecken. Eine genauere musiktheologische Auswertung hat Artur Simon an anderer Stelle früher gegeben.
Hartmut Walravens im Forum Musikbibliothek 33. Jg 2012, H. 2