„Die Kunstanschauung einer puritani- schen Kunst ist derart, ...“

Die Kunstanschauung einer puritanischen Kunst ist derart, dass die Kunst die Moral bestärken und den Patriotismus schmeicheln soll. Eine puritanische Kunst weiß gar nicht, was Kunst ist, lässt Lawrence Durrel eine seiner Hautpersonen in seinem Roman Clea sagen, dem 4. Band seines Alexandria Quartetts, die in den 60er Jahren Bestseller waren. Ist die Zeit in Russland stehen geblieben?

Lesen – seine Förderung und Anforderung ist seit Jahren das Thema eines wissenschaftlichen Rates bei der Akademie der Wissenschaften, Moskau, dessen 8. Band jetzt vorliegt: Proceedings on spaces of child- hood: the experience of Russia and the world. Damit war dem Herausgeber (A. Lektorsky) gelungen, was selten möglich ist, die Vorträge auf der Konferenz vom 14.-15. November 2013 den Teilnehmern vorzulegen. Hervorragend organisiert von Julija Melent‘eva in der klassischen und doch Spaß bringenden staatlichen Kinderbibliothek und der Pädagogischen Akademie in Moskau spannte sich der Bogen weit von Grund- satzreferaten, wie den früheren ABC-Geschichten, über die Rolle der Lehrbücher in der Emigration, über die Suche nach Identität in dem Dialog zwischen den Generationen (Ukraine) zur neuen Prosa für Teenager. Durch die großzügige Unterstützung meiner Teil- nahme durch das Goethe-Institut Moskau war es mir möglich, eine russisch sprechende Assistentin – Na- thalia Mazureac – auf diesen Kongress mitzunehmen. Sie hatte auch die Übersetzung des Referates über- nommen, das wir beide auf der Grundlage eines lan- gen gegenseitigen Dialogs geschrieben hatten. Wäh- rend Nathalia Mazureac eine Tochter, Anna, von 5 Jahren hat, war ich mit den sehr bekannten Vorlieben und Vorlesegewohnheiten meines gleichaltrigen En- kelsohns David konfrontiert. Dieses hatte zu langen Gesprächen zwischen uns beiden geführt. Wir hat- ten oft das Lesen und die Vorlieben der beiden Kin- der verglichen, was wog schwerer, der Unterschied zwischen Junge und Mädchen oder der Kindheit in einem deutschen Haus und einem russischen, wenn auch in Deutschland. Das war gar nicht so einfach, da die Lesegewohnheiten bei Kindern wechseln und – wenn auch unbeabsichtigt – von den vorlesenden Erwachsenen sehr beeinflusst werden. Dies geschieht unabhängig von dem jeweiligen Kitabesuch, dessen Einfluss auf das Lesen unserer Erfahrung nach immer noch gering ist.

Wir waren verblüfft. Natürlich hatte unser Vortrag auf die internationalen Bibliotheksinitiativen beson- ders nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen, aber viele gegenwärtige Trends fußten auf den Veröffent- lichungen des Simon Verlages für Bibliothekswissen, der sich mit einem seiner ersten Bücher, und zwar von Susanne Brandt „Hören und Lernen“, diesem Thema angenommen hatte. Wir wissen, dass Lesen in der pädagogischen Diskussion immer noch hinter päda- gogischen Überlegungen zum geförderten Erwerb von Kenntnissen der Naturwissenschaften rangiert, wir wissen aber auch, welchen Stellenwert das Lesen heute schon einnimmt und zunehmend einnehmen wird. Gerade für Jugendliche wird die Fähigkeit der Orientierung im Netz von ihrer Fähigkeit des Lesens abhängen. Dass der Gebrauch des Begriffs funktio- naler Analphabetismus heute in der Diskussion zu- nimmt, macht dies deutlich.

Dieser Ausdruck fiel in Moskau nur einmal und nicht in der Schärfe und Eindeutigkeit, wie er in Deutschland und den angelsächsischen Ländern ge- braucht wird. Die Richtung des Lesens und seine Wertung waren von der in Deutschland sehr verschie- den. Auch das Referat On-screen reading and the new types of literacy beschäftigte sich weniger mit der Ausbildung zur Informationsvermittlung, wie sie in Deutschland auch schon von Kindern beherrscht werden sollen, sondern es ging in erster Linie um den Kommunikationsprozess beim Lesen.

Lesen und Vorlesen ist eins der wichtigsten Kom- munikationen zwischen den Generationen, seien es nun Eltern oder Großeltern und dieses kam in vielen Beobachtungen und Bemerkungen zum Ausdruck. Es ging darum, diesen Prozess sichtbar zu machen und lebendig zu halten. Daher war auch die Kunst als Ver- mittler gefragt, wie sie in den praktischen Beispielen aus der Schule und der Bibliothek am zweiten Tag demonstriert wurde. Hinreißend das Beispiel, wie Kinder die rechte Betonung beim Lesen durch Tanzen erfahren. Lesen (und Vorlesen) ist die wichtigste Einführung des Kindes in das Leben und dadurch die Festigung des Dialogs zwischen den Generationen. Immer wieder wurde die Förderung der Kommunika- tion durch das Lesen und durch die Aktivitäten um das Lesen auch mit Hilfe der Kunst angesprochen. In diesen Rahmen passte auch die Forderung einer sozi- ologischen Betrachtung der Kunstbücher, oder besser noch der Aufnahme der Kunst durch Kinder. Diese Blickrichtung gefällt uns sehr. Gerade die Kunst, sei es Musik, sei es Malerei, trifft bei Kindern sehr oft auf unverbildeten und offenen Zugang. Dieses bei Kin- dern einzusetzen, war auch das Anliegen von Susanne Brandt in dem oben erwähnten Buch, wird aber leider nicht allgemein angewandt. Auch in der Forderung, mit dem Lesen die Kommunikation zwischen Kin- dern und Eltern zu fördern – die Beobachtung, dass die ersten Leseerfahrungen nur mit den Eltern /Groß- eltern zum Erfolg führen, hat der jetzige Präsident der Vereinigten Staaten Obama schon 2004 auf einem Bi- bliothekartag in Chicago den Bibliothekaren für ihre Arbeit mitgegeben.

Die Frage, wie und mit welchen Themen die Kin- der in das Leben eingeführt werden sollen, blieb un- beantwortet. Aber Tabuthemen bleiben ausgespart, nicht auf höheren Befehl, sondern die Bibliothekare kehrten der modernen Literatur, sofern sie denn vor- handen war, selber den Rücken. „Nein, nur Klassik“, war öfters zu hören. So fanden wir denn in einer zwar mit Kinderbüchern vollen Buchhandlungen, die wohl nicht zu den besten gehört, eine Menge schlecht ge- machter Kinderbücher, aber die Themen hielten sich abseits der Realität, die auch in Moskau an jeder Straßenecke zu besichtigen ist. Dass Homosexualität als Thema nicht gewünscht ist, wissen wir, aber dass Scheidung und Behinderung möglichst ausgespart werden, ist uns jetzt bekannt. Wir mussten aber hier erfahren, dass das mit dem Willen der Lehrer und Bi- bliothekare übereinstimmt. Wir konnten leider nicht erfahren, ob Pippi Langstrumpf oder Michel in der Suppenschüssel ins Russische übersetzt und auch ver- breitet wurden.

Man wünscht sich, dass dies der Fall ist und auch Themen, die evtl. nicht in die heile Welt der Kind- heit passen, Eingang in das Kinderbuch finden. Die Anregungen, die diese Konferenz für die ästhetische und musische Erziehung gab, war hochwillkommen, damit junge Menschen nicht nur als Funktionsträ- ger gesehen werden, wie oft bei vielen Diskussionen um Erziehung und Ausbildung. Lesen und Kunst als Erziehung zur Kommunikation und Emotion sollte auch in Deutschland diesen Stellenwert haben und die musische Erziehung nicht nur einer vernachläs- sigten Masse angehören, wie oft an den Schulen in Deutschland zu beobachten ist. Aber Kunst und auch Dichtung (für Kinder) kann wehtun, sie ist nicht das Fahrzeug in eine schöne heile Welt und sollte es auch nicht sein. Man weiß auch nicht, wohin das führt, der oben genannte Spruch von L. Durell stammt aus dem Jahre 1965.

Elisabeth Simon