Lesen im kindlichen Raum. Erlebnisse in Russland und der Welt nannte der wissenschaftliche Rat der Leseforschung an der Akademie der Wissenschaften in Moskau seine Konferenz, zu der er am 14.-15. November zahlreiche russische Fachleute, aber auch Vertreter aus Bulgarien, Finnland, der Ukraine und Deutschland eingeladen hatte

Der Basis und Blickrichtung der Konferenz folgend fand diese in der Staatlichen Kinderbibliothek Moskau und in der Pädagogischen Akademie statt.

Seit Einführung des Internet und der elektronischen Informationsvermittlung am Bildschirm ist Lesen- wir würden es Informationskompetenz nennen – in den Fokus zahlreicher Verbände, des Leseverbandes, des Schulverbandes, des Bücherverbandes u.a. gerückt. Auch sie verfolgen das Ziel, das akademische Interesse für das Lesen zu wecken, um damit neue strukturelle Impulse in und für die Schule und Bildung zu entwickeln. So sollte auf der einen Seite das Interesse an der grundlegenden Lesegemeinschaft zwischen Eltern, sehr oft auch als Vorleser agierend, sei es Vater, Mutter oder Großeltern neue geweckt oder gefestigt werden. Leseerfahrung wird als Kern der Verbindung zwischen den Generationen angesehen. Auf der anderen Seite forderte der Guro der Leseforschung, Prof. Sobkin, eine Soziologie der Leseforschung. Damit sind unserem Verständnis nach soziologisch erfassbare Strukturen für den Zugang zu Buch und Lesen gemeint. Unübersehbar war die Besinnung auf das alte Kinderbuch. Auch in den USA, Großbritannien und Deutschland werden alte Kinderbücher herausgegeben, man denke nur an Hänschen im Blaubeerwald. Dabei wird diskutiert, wie weit die Erfahrungen der Eltern mit ihren Kinderbüchern bei dieser Wahl eine Rolle spielen. Wir können es uns aber nicht vorstellen, dass in den genannten Ländern ein Verlag von dem alleinigen Angebot alter Kinderbücher sein Programm bestreiten könnte, wie es hier vonV.G, Bezrogov und M.V Tendryakova vorgestellt wurde. Während in Deutschland hybride Bibliotheken und die Integration von elektronischer Information und Buch die Diskussion beherrscht, wurde hier das kulturelle Strukturbild hinterfragt. Die Welt der Bücher wurde medial und die neuen Medien als gefährdende Zerstörung einer Lesegemeinschaft in frühen Jahren zwischen Eltern und Kind gesehen. Dem zufolge wurde hier eine in Deutschland noch wenig beachtete Sichtweise auf das Buch und Lesen übermitteln. Das Internet und der Einsatz elektronischer Texte wurde als ethisch bedrohlich konnotiert. Die damit definierte Lesekrise wurde als persönliche Krise angesehen, als eine Zerstörung von Lesegemeinschaft und der damit verbundenen Ethik und einer durch die neuen Medien reduzierten Humanität. Dieser teilweise von Angst besetzten theoretischen Betrachtung folgten praktische Beispiele aus Schule und Unterricht, die faszinierend zeigten, wie Kinder und Jugendliche für das Lesen begeistert werden können. Lesen muss Spaß machen. Dieses Ziel hatten alle Projekte, die hier vorgestellt wurden. Es fehlen im häuslichen aber auch Schulalltag Singen und Reden. Praktische Beispiele in Malen, Theater und Spielen sollen dem begegnen.

Die fehlende Struktur des Alltags führt oft zur intellektuellen Apathie und Verarmung der emotionalen Erziehung. Während früher Kunstbücher zur Information eingesetzt wurden, wird heute die ästhetische Wirkung gesucht. Diese soll wiederum die Kommunikation ausbilden, eine Förderung, die allen praktischen hier vorgestellten Beispielen zu Grunde lag.

Diese ästhetische Erziehung wird eine große Wirkung zur Zeit der Lesekrise zugeschrieben. Sie sollte von den großen Dichtern ausgehen. Beispiele aus der modernen Literatur wurden abgelehnt. Damit fehlte die Auseinandersetzung mit der Moderne, die wegen diffus gewordener ästhetischen Struktur auch heute schwierig ist. Es fragt sich aber, ob damit nicht das Interesse Jugendlicher an qualitativ hohen Texten geweckt werden könnte und damit deren Verständnis. Schüler können oft nicht einmal eine halbe Seite wissenschaftlichen Textes verstehen und wiedergeben. Das sind auch internationale Erfahrungen, von Deutschland bis in die Vereinigten Staaten. Dieser funktionale Analphabetismus ist eine internationales Problem und damit alle Aufklärung und Erziehung im Zeitalter des Internet gefährdend.

Somit wies die Konferenz den weiteren Weg für die Scientific Council of Reading. Damit hatte auch Frau Melentieva Recht, die die Konferenz mit Charme und unendlicher Geduld vorbereitet und organisiert hatte: es gibt keine Krise des Lesens. Sie schloss mit dem Hinweis auf die Fabel von Sif, dem 3. Sohn von Adam, der der Menschheit die Buchstaben geschenkt hat. Sie wies auch auf den Ausspruch von Putin hin, der gefordert hatte, jeder Bürger solle in seinem Leben 100 Bücher gelesen haben und auf die weitere Tätigkeit des Rates zur Leseforschung, die demnächst ein Lexikon mit mehr als 400 Fachbegriffen herausgeben wird. Man muss Frau Melentieva zustimmen, es gibt keine Krise des Lesens sondern eine unübersehbare Fülle neuer Möglichkeiten für die Versorgung mit Informationen und der Begegnung mit Wort und Text. Sich dieser ganzen Fülle bewusst zu werden, aber auch der Gefahren für Humanität und Ethik war sein außerordentlicher Verdienst dieser Konferenz.


1. Elisabeth Simon und Nathalie Mazureac stellten mit dem Thema Lesen und Kinder, russische und europäische Traditionen an hand eigener Erfahrungen vor. Diese wurden ergänzt durch Beobachtungen zweier Kinder Anna (Tochter von Frau Mazureac) und David (Enkelsohn von E.Simon,) beide 5 Jahre alt. Die Reise von E. Simon wurde dankenswerter Weise vom Goethe Institut Moskau unterstützt. 
2. Die Bibliothek steht, wie der Name sagt unter der Aufsicht des Staates und wird von diesem auch finanziert. Es gibt nichts Vergleichbares in Deutschland, wo das gesamte öffentliche Bibliothekswesen in den Verantwortungsbereich der Kommunen fällt. Siehe dazu auch Kanic, Ahlfänger, Simon EnglischInternational, Berlin 2012, 162 Seiten.
3. Es ist bezeichnend, dass der jetzige Präsident der USA als Senator die gleiche Forderung bei einem Kongress der Bibliothekare in Chicago erhob. Siehe Ahlfänger, F. Jugend – Bildung - Bibliotheken, Berlin 2009, Vorwort in Deutsch und Englisch.
4. Learning to read at the dawn of the new area. The early history of the ABCs in: reports of the scientific council of reading, Proceedings November 14-15, 2013: 13- 29.
5. Siehe dazu: Schaefer- Rolffs, Aike, Berlin 2012, 140 Seiten.
6. Diesem Impetus ist in Deutschland von Susanne Brandt mit Lauschen und Lesen, Hörerlebnisse in der Sprach und Leseförderung von Kinderbibliotheken,. 2008 mit CD gefolgt. Ihre Anregungen wurden, soweit wir informiert sind, von Schulen nicht aufgenommen.

17. Nov. 2013 E.Simon