15. internationaler Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 
Göttingen, 4.-8. September 2012

Der Kongress der Gesellschaft für Musikforschung fand zusammen mit der Conference on Interdisciplinary Musicology vom 4.-8. September in Göttingen statt. Er war ausgezeichnet vorbereitet: ein Heft der Abstrakts und Programmpunkte von 230 Seiten informierte nicht nur über die Veranstaltungen sondern mit Anzeigen und Bildern über den Stand der Musikwissenschaft heute. Das gleiche geschah durch die Ausstellungen der Verlage, wobei die historische Musikwissenschaft überwog. Das große, neue dreibändige Werk über Bach wurde herausgestellt sowie wie die Gesamtausgabe der Werke des Tanzmeisters von Ludwig IV, Lully.

Die hervorragend erarbeitete Ausstellung über die Geschichte des Institutes für Musikwissenschaft, das seinen Sitz in Accouchierhaus hat – hoffentlich ohne die Rundumbewachung , der noch im 19.Jahrhundert die entbindenden Frauen ausgesetzt waren, erzählte Geschichte und Entwicklung der Musikwissenschaft in Göttingen, die wie viele andere Fächer im Zuge radikaler Universitätserneuerung vor einigen Jahren als Orchideenfach abgewickelt werden sollte. Mit politischem Gespür im Zuge der gegenwärtigen Bildung von Kompetenzzentren gelang eine enge Kooperation mit der Universität Hannover und sicherte damit das Überleben des Faches in Göttingen, wie es dankbar während der Eröffnung des Kongresses in der schönen Aula erwähnt wurde. Die Ausstellung kommentierte auch die erste Annäherung der Musikwissenschaft weg von der klassischen historischen Musik zur internationalen Musik in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch eine Studentengruppe mit außereuropäischen Instrumenten aus der großartigen Instrumentensammlung des Institutes. Die Gruppe war im In - und Ausland sehr erfolgreich.

Die Zuordnung zum Orchideenfach und damit zur angeblichen Nutzlosigkeit wurde durch die vielen regionalen Untersuchungen unterstrichen, die der historischen Musikwissenschaft das Gepräge von Dörflichkeit und Kleinstaaterei verliehen. Dieses mag sich jetzt als Glück erweisen. Bei der zunehmenden Regionalisierung auf der einen Seite und der kulturellen Verelendung auf dem platten Lande mag sich die Musik als eine haltbare Klammer erweisen, die durch das gemeinsame Tun und Erleben kommunale Bindungskräfte entfaltet. In fast allen Ortschaften, die weder Theater, Kino noch Bibliothek haben, findet sich ein Chor und finden Konzerte statt.

Etwas ratlos ließ einen Diskussion um Professor Bötticher und der Grad seiner Teilnahme an der Kulturpolitik und besonders der kulturellen Raubbeute in Frankreich durch den Nationalsozialismus. Seine ausführliche, maschinenschriftliche Gegendarstellung zu dem Buch von de Vries wurde eifrig gelesen. Es beleuchtete wieder einmal das alte Problem einer moralischen Wertung eines geschichtlichen Vorgangs. Sind wirklich bei dieser Wertung alle Gesichtspunkte berücksichtigt worden? Welche Recht und Pflichten hatten bestimmte Funktionsträger und wurden diese immer eingehalten? Wir wissen um die Verhandlungen um das Beutegut mit Russland, wie schwierig Verhandlungen über Rückführungen von Beutegut sind und in welch rechtsfreiem Raum diese sich oft abspielen müssen.

In der Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Wandelt vollzogen. Generell gesprochen entfernte man sich von der Sozialgeschichte (Bürger Bauer Edelmann hieß eines der viel gelesenen und zitierten Bücher in den sechziger Jahren) und wandte sich dem Kommunikationsprozess zu, der gerade in der Musik wichtig und aufschlussreich ist. Musik Lernen und Lehren wurde dieser Prozess beschrieben. Inspiration ist nicht steuerbar konstatierte D. Helms in seinem Vortrag und forderte eine Geschichte des Hörens. Rebacca Grotjahn gab mit ihrem Beitrag Sie muss täglich einigen Comtessen vorsingen- Sängerinnen, Gouvernanten und andere musikalischen Frauenberufe einen sehr launigen aber treffenden Bericht über Frauenberufe in der Musik, deren Ambivalenz heute noch in der Musikszene, wenn auch in anderen Berufen anzutreffen ist.

Wie oft bei internationalen Konferenzen fand sich einer der interessantesten Beiträge bei den Freien Referaten :Dr. Shin Hyang Yun, Über die Gattungsstrategie der Diaspora aus dem Fernen Osten am Beispiel Isang Yun und Mam June Paik .Obwohl man über den Gebrauch des Wortes Diaspora, der bei uns immer noch konfessionell konnotiert ist, etwas wunderte, machten die Beispiele aus den Opern Isan Yun deutlich, wie kreativ fernöstliche Tradition mit den Strömungen moderner Musik eingegangen war. Dies wurde auch deutlich an der Electronic Opera Nr. 2 (1972) ein Werk mit TV Monitoren, das unserer Meinung nach jede gegenwärtige Videoinstallation, die heute das Musikangebot in Berlin beherrscht, in den Schatten stellt.

Man hätte sich gewünscht, zu dem gezeigten Foto von Yun, Paik und Cage ein Tonband ihres Gespräches zu hören. Nicht von ungefähr werden immer mehr Standpunkte und Beiträge heute in Form von Interviews dem Leser vermittelt, nicht nur der Tagesspiegel, Berlin in seinem Sonntagsinterview auch der Spiegel und DIE ZEIT betreiben das. Standpunkte werden persönlich und unvermittelt deutlich. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte der Verlag nur zu gerne die beiden Dialogpartner seiner Bücher Höre Hespos ISBN 978-3-940862-23-5, den unerbittlichen modernen Komponisten Hans Joachim Hespos und den zu seiner Zeit einsamen Künstler Dahab Khalil (Dhab Khalil in nubischer Sänger von Sai im Gespräch mit Artur Simon aus Berlin ISBN 978-3-940862-34-1 ) zu einem Zwiegespräch während dieses Kongresses eingeladen. Der Verlag ist sich sicher, die beiden so unterschiedlichen Künstler hätten sich am Ende glänzend verstanden. Dies hätte die über alle Grenzen und Zeiten tiefe Kommunikationskraft der Musik gezeigt, und die Bedeutung der Neuen Musik und der Musikethnologie wäre noch mehr in den Vordergrund gerückt worden, wohin sie heute gehören.

Artur Simon