Wie sich die Informationswissenschaft in der digitalen Transformation behauptet

Zwei vielversprechende Ansätze, um sich immer wieder neu zu etablieren

Stephan Büttner (Hrsg.), Die digitale Transformation in Institutionen des kulturellen Gedächtnisses - Antworten aus der Informationswissenschaft, Simon Verlag für Bibliothekswissen, Berlin 2019.

Von Willi Bredemeier

Der von Stephan Büttner herausgegebene Reader ist eine Art Schwesterpublikation der von mir herausgegebenen „Zukunft der Informationswissenschaft“. Das lässt sich zunächst an Äußerlichkeiten und Überlappungen festmachen: derselbe Verlag, nahezu zeitgleiche Herausgabe, in mehreren Fällen die Fortführung einer Debatte mit denselben Autoren und Themen (zum Beispiel „Fake News“). Zudem hat Büttner zum Erfolg der „Zukunft der Informationswissenschaft“ beigetragen, indem er mir mehrere Autoren vermittelte. Von grundlegenderer Bedeutung ist jedoch, dass es in beiden Büchern letztlich um eine Selbstvergewisserung und eine Leistungsschau einer über sich selbst ins Grübeln gekommenen Disziplin geht – dies angesichts drohender oder tatsächlicher Abwicklungen und einer unentschieden gebliebenen Debatte über einen einheitlichen Bezugsrahmen und der Möglichkeit von Alleinstellungsmerkmalen.

Dies wird von dem Herausgeber in seinem Vorwort ähnlich gesehen: „Der Fachbereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam hat sich dem Thema ebenfalls verschrieben und sich folgende Fragen gestellt:

  • Was bedeutet die Digitale Transformation für die Informationswissenschaft?
  • Wie sieht die Profession dies?
  • Wird bzw. wie wird die Informationswissenschaft wahrgenommen?

Das Ergebnis ist der vorliegende Sammelband“ (Seite 8).

Was bedeutet die Digitale Transformation für die Informationswissenschaft? Die erste Frage wurde von Studierenden der FH Potsdam in einem Projektseminar zu beantworten gesucht, indem sie die Modulhandbücher der Studiengänge an ihrer Hochschule auf die zu vermittelnden „Digital Literacy“-Fähigkeiten abklopften. Dabei kommen sie unter anderem zu den Ergebnissen, dass „die Curricula der Studiengänge nur zu einem sehr geringen Anteil – bis auf den Studiengang Informations- und Datenmanagement – auf die Vermittlung der Digital Literacy ausgerichtet sind“ (184) und „vor allem der Bereich der kommunikationsbezogenen DL-Skills kaum Beachtung in der Lehre findet“ (185). Gleichzeitig stellen die die Autoren jedoch selbst infrage, ob sie mit der Analyse der Modulhandbücher die richtige Methode für ihre Fragen gewählt haben und sie schließen nicht aus, dass ihnen bei den Auswertungen Fehler unterlaufen sind (188). Ich vermute, dass das Anstreben von „Digital Literacy“ bei den Lehrern und Forschern der FH Potsdam eine solche Selbstverständlichkeit ist, dass der Begriff in den Modulhandbüchern kaum mehr auftaucht, vielmehr implizit auf immer wieder neue Bereiche bezogen und zum Teil vorausgesetzt wird (wie ja auch nicht erwähnt wird, dass die Studierenden ihre Fähigkeiten zum Lesen und Schreiben nutzen sollen, sobald sie einen Seminarraum betreten haben). Es ist aber wichtig, dass Studierenden an die Forschung herangeführt und dabei kritische und selbstkritische Methodenkompetenz erlangen (und dabei eventuell über Veröffentlichungschancen motiviert werden) (Filip Bak u.a., Das Konzept der Digital Literacy und seine Relevanz für die Informationswissenschaften – Am Beispiel eines studentischen Projektkurses).

Wie wird die Informationswissenschaft wahrgenommen? Die dritte Frage, wie die Informationswissenschaft wahrgenommen wird, wird von Melanie Siegel mit „positiv“ beantwortet, indem sie auf die Absolventenbefragung der Hochschule Darmstadt verweist: Unter ihnen gäbe es „praktisch keine Arbeitslosigkeit“. Das ist ein wichtiges und gern wiederholtes Argument, wenngleich es nicht zu hundert Prozent befriedigt. Wurden die Absolventen in Eton für das Regieren des britischen Weltreiches wirklich fit gemacht, indem sie mit griechischen und lateinischen Texten traktiert wurden? Frau Siegel formuliert einen wahrscheinlich weitgehenden Konsens innerhalb der Informationswissenschaft, indem sie eine positive Wahrnehmung ihrer Disziplin von deren Praxisrelevanz abhängig macht: „Das Fach selbst kann und muss regelmäßig seine Inhalte überarbeiten und sich an den Erfordernissen aus Gesellschaft und Arbeitswelt anpassen“ (22) (Melanie Siegel, Von Informationswissenschaft zu Information Science).

Wie sieht die Profession dies und was sagt das über ihre Überlebensfähigkeit aus? Die zweite Frage, wie die Profession die Digitale Transformation sieht, lässt sich vielen Beiträgen des Sammelbandes entnehmen. Was sagen sie über die Überlebensfähigkeit der Informationswissenschaft aus? Auch wenn die Informationswissenschaft über keinen einheitlichen Bezugsrahmen und nicht über unumstrittene Alleinstellungsmerkmale verfügt, so sollte sie sich doch durch die Qualität ihrer Beiträge zu Teilbereichen und -problemen des universalen Trends der Digitalen Transformation behaupten und auf Dauer die Akzeptanz ihres wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeldes gewinnen. Salopp formuliert, sie muss einfach nur sehr gut sein, um bestehen zu bleiben – auch wenn sich solches nicht als Garantie, sondern nur als Chance und vielleicht Wahrscheinlichkeit formulieren lässt.

Auch verfügt die Disziplin sehr wohl über Alleinstellungsmerkmale, wenn man „Informationswissenschaft“ mit „Library and Information Science“ übersetzt, also die Bibliothekswissenschaft in die Disziplin integriert, wie dies international und in den Curricula einiger Fachbereiche auf deutschsprachigem Boden üblich ist. Die Autoren des Sammelbandes nutzen diese Möglichkeit, indem sie die Revolution der Archivbenutzung (Glauert), die Möglichkeit des Crowdsourcing in Bibliotheken (Georgy), die Anforderungen an Kulturmanagerinnen in Museen (Fischer) und die Digitale Transformation in Bibliotheken in Form einer Länderstudie (Holländer) erörtern. Ich habe wiederholt dafür plädiert, im Themenspektrum der LIS auch den privaten Sektor der Informationsbranche, hier beispielsweise die Firmenbibliotheken, einzubeziehen, eine Anforderung, der die hiesigen Vertreter der Informationswissenschaft – wie auch dieser Reader zeigt - insgesamt gesehen eher ungern nachkommen.

Eine zweite Möglichkeit, die Informationswissenschaft erfolgreich zu etablieren, besteht darin, sich Themenbereiche im Rahmen der Digitalen Transformation anzunehmen, die von anderen Disziplinen noch nicht abgegrast worden sind. In der Tat scheint mir die Geschwindigkeit, mit der die Informationswissenschaft angesichts der Universalität und Vagheit ihres Grundbegriffes und ihrer daraus resultierenden Heterogenität neue Themenbereiche aufgreifen kann und zum Teil aufgreift, ein Vorteil zu sein. Die Anforderung des „Noch-nicht-abgegrast-Seins“ trifft sicherlich nicht für die Kritik an den Internet-Konzernen zu (wo ein positives Wort über sie fast zu einem Alleinstellungsmerkmal würde), eher schon beim Themenbereich „Kommunalverwaltungen“ (Ilhan u.a.) und bei ausgewählten Fragestellungen womöglich gar bei ausgewählten Fragestellungen für den sehr weit gefassten „öffentlichen Bereich“ (Siebenlist/Mainka). Wiederum hätte ich mir auch hier eine weitergehende Einbeziehung des privaten Sektors gewünscht. Allerdings gab es für den Sammelband auch einige Absagen von ins Auge gefasster Autoren.

Indirekt wird aber von der Aufforderung zum „Agilen Handeln“ über die „Herausforderungen für Kulturmanager“ bis zur Darstellung der allgemeinen Rahmenbedingungen durchaus häufig auf die Privatwirtschaft Bezug genommen, zumal die besondere Leistung mehrerer Autoren darin besteht, den Transfer von Konzepten, wie sie die Privatwirtschaft entwickelte, für Bibliotheken oder den Öffentlichen Bereich vorzunehmen und an deren Besonderheiten anzupassen. Das führt zu der weiteren Frage, warum die Bibliotheken oder der Public Sector, mindestens ihre Forerunner-Einrichtungen, nicht gleichfalls transferfähige Konzepte erarbeiten und einführen, die die Privatwirtschaft dankend entgegennehmen würde, so dass sie weniger häufig die abhängige Variable sind.

Die Revolution in den Archiven – Vermehrte Beratungschancen für Archivare und Bibliothekare.

Beginnen wir mit den Beiträgen, mit denen die Autoren auf die Alleinstellungsmerkmale ihrer Disziplin bauen. Mario Glauert stellt mit seinem Beitrag „Quo vadis Lesesaal? Die digitale Transformation der Archivbenutzung“ einen der Highlights der Veröffentlichung dar. Die digitale Transformation in den Archiven vollzieht sich aus seiner Sicht so:

„Genutzt wird zunehmend wohl nur noch, was digital und online verfügbar ist. Damit wird die Nutzung mittelfristig nicht nur die Digitalisierung von Quellen steuern, sondern auch deren Erschließung und Erhaltung. Die Benutzung könnte damit faktisch zu einer zweiten Bewertung für die künftige Auswahl von Archivalien und Beständen werden. Das Revolutionäre an dieser neuen Form von Überlieferungsbildung ist allerdings, dass sie nicht mehr archivar-, sondern nutzergesteuert ist. Im Selbstverständnis der deutschen Archive bildet die Benutzung des übernommenen, verwahrten und erschlossenen Archivgutes heute das Ziel und den Zweck allen archivarischen Handelns“ (25).

Dabei ist der Wandel von bestandsorientierten zu nutzungsorientierten Einrichtungen keineswegs abgeschlossen. Allerdings dürfte er unumkehrbar sein, da die „freie und offene Nutzung von Archiven“ als ethisches und politisches Ziel vorgegeben wird. Einer aus Laiensicht naheliegende Totaldigitalisierung scheitert freilich an den immensen Kosten und dem ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis der Archive aus quantitativer Sicht, zumal nicht die Digitalisierung, sondern die Erschließung die eigentliche Herausforderung darstellt:

 „Der Aufwand für die technische, oft auch konservatorische und restauratorische Vorbereitung des Archivgutes, die fachgerechte und standardisierte Erschließung seiner Informationen sowie die Verwaltung und stabile Sicherung der entstehenden Images und Metadaten übersteigen die einmaligen Kosten für das eigentliche „Scannen“ um ein Vielfaches (27)…

Im Durchschnitt wird eine Akte nur etwa alle fünfzig Jahre einmal benutzt – (29) „Archivbenutzer bleiben auch im Digitalen Zeitalter eine eher überschaubare Klientel“ (30).

Zu den politischen Vorgaben treten die Anforderungen google-gewohnter Nutzer, die nicht digitalisierte Materialien kaum mehr nutzen werden, aber alles, was digitalisiert worden ist, möglichst unter einer Oberfläche verfügbar haben möchten. Das setzt die Vereinheitlichung von Normdaten, also von „Standards, die in den deutschen Archiven weithin noch nicht etabliert sind“ (29) ebenso voraus wie eine weitgehende Zusammenarbeit zwischen den Archiven, so dass sich von einem „Archiv-Verbund“ sprechen lässt. Als Vision für das wissenschaftliche Arbeiten ergibt sich:

„Glaubt man den großen Erwartungen, die mit neuen Schlagworten wie Digital Science oder den Digital Humanities verbunden sind, werden künftige digitale Publikationen und Forschungsarbeiten vor allem Verknüpfungen zahlreicher Informationsressourcen und Medienformen sein, wobei jede dieser Quellen wiederum mit zahlreichen weiteren Ressourcen und Daten vernetzt ist. Über die dann hoffentlich persistente und weltweite eindeutige Signatur jeder Archivalie kann man so zu allen Publikationen, Datenbanken und Artikeln gelangen, in denen diese Archivalien bereits genutzt wurden (32)“.

Um das Kostenproblem in den Griff zu bekommen, zeichnet sich am Horizont als eine Lösung die „Digitalisierung on demand“ ab, so dass nur noch die nachgefragte Akte digitalisiert wird (ähnlich wie „Patron-Driven-Akquisition“ in Bibliotheken) (34f.).

Die Ausbreitung der „Digital Humanities“, meint Glauert, ist mit besonderen Chancen für die Mitarbeiter verbunden, da das, was direkt verfügbar gemacht wird, immer nur Rohdaten sein können: „Archivbenutzung heißt daher auch im digitalen Zeitalter vor allem Beratung der Benutzer bei der Recherche und Auswertung des Archivgutes“ (31).

Ähnlich positive Konsequenzen der Digitalisierung vermuten Sara Motos u.a auch für Bibliothekare. Sie stellen fest, dass sich „die Aufgaben und Profile der Bibliotheken dank der Digitalisierung wieder vermehrt auf die Kernaufgaben der Forscher ausrichten, so dass sich Forscher während der Umsetzung ihrer Forschungsprojekte gerne wieder an die Bibliothekare wenden. Sie schätzen deren Quellenkenntnisse sowie deren Ratschläge, die von rechtlichen bis technischen Tipps reichen (Die Geisteswissenschaften und die Digitalisierung, 70).

Lesen Sie in der nächsten Folge von Open Password : Die digitale Transformation in den angestammten Institutionen mitgestalten - In einer Welt der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität gestellt und sich dennoch behaupten